Zur Erforschung der Autobahngeschichte sind nicht nur die sorgfältige Sichtung von Akten in den Archiven sowie die Lektüre von Primär- und Sekundärliteratur notwendig, sondern auch Kombinationsgabe und Intuition. Doch manchmal verhilft auch der Zufall zu einer bedeutenden Entdeckung, wie das folgende Beispiel zeigt. 1. Zwei Fotos von Hessen Mobil führten auf die Spur Ein solcher Zufall führte auf die Spur eines Kilometersteins aus Granit, der lange Jahre unbeachtet bei km 350,0 auf dem Mittelstreifen der Autobahn A 4 zwischen den Anschlussstellen Friedewald und Bad Hersfeld stand. In Fahrtrichtung Bad Hersfeld – Kirchheimer Dreieck ist darauf "350 km von Berlin" zu lesen (Bild 1), in Fahrtrichtung Erfurt – Hermsdorfer Kreuz "350 km nach Berlin" (Bild 2). Wegen der Schutzplanken, des Bewuchses und des im Laufe der Zeit angesammelten Schutts war der Kilometerstein von den Autobahnnutzern kaum mehr wahrzunehmen. Bilder 1 + 2: Der Kilometerstein aus der Reichsautobahnzeit an seinem ursprünglichen Standort auf dem Mittelstreifen der BAB A4 bei Streckenkilometer 350,0 © Hessen Mobil, Straßen- und Verkehrsmanagement, 05.03.2013 Diese beiden Aufnahmen erhielt der Verfasser im Frühjahr 2013 zusammen mit weiterem Bildmaterial von Hessen Mobil – Straßen- und Verkehrsmanagement aufgrund einer allgemeinen Anfrage nach Fotos von Berliner Meilensteinen an hessischen Autobahnen und Straßen. Nach erster Betrachtung war nicht klar, um was es sich hier handelte, doch der Austausch mit Kennern der Autobahngeschichte brachte den entscheidenden Hinweis: Ein Kilometerstein aus der Reichsautobahnzeit. Das war eine kleine Sensation, denn bis dahin war nirgendwo ein solcher, noch erhaltener Stein nachgewiesen worden. Sie sind wohl den bundesweiten Erweiterungs- und Neubauten der Autobahnen in den letzten 50 Jahren zum Opfer gefallen, oder wurden möglicherweise als Relikte der NS-Zeit bewusst abgeräumt. 2. Einordnung des Kilometersteins in die Reichsautobahngeschichte Nun ging es darum, den Ursprung des Kilometersteins zu beschreiben und historisch einzuordnen. Unterlagen im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden sowie die Fachzeitschrift ‚Die Strasse’ halfen weiter. Bereits am 23. Februar 1939 hatte die Oberste Bauleitung Reichsautobahnen in München (Leiter: Paul Hafen) vom Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen (GI), Fritz Todt, die Genehmigung für einen ersten Versuch erhalten, in der Mitte des Mittelstreifens der Autobahn München – Karlsruhe weiße Kilometersteine aus Kunststein aufzustellen. Sie hatten die Maße H 60 cm, B 46 cm, T 10 cm und wurden 15 cm in die Erde versenkt. [1 Bild3: Kilometerstein auf der Reichsautobahnstrecke Stuttgart – München Dieser Kilometerstein muss seinerzeit ungefähr bei Odelzhausen gestanden haben. Er wies auf den Endpunkt der Autobahn Stuttgart – München vor Obermenzing hin. Im Juli 1939 ordnete der GI an, die im Verkehr und im Bau befindlichen Reichsautobahnen in längere Betriebsstrecken zusammenzufassen. Bis spätestens 1. August 1939 sollte eine durchgehende Kilometrierung der Betriebsstrecken und eine Vereinheitlichung der Autobahnbeschilderung für die Fernziele sichergestellt werden. Dazu legte er sieben Hauptstrecken und 23 weitere Reichsautobahnstrecken fest, darunter auch solche mit geringer Länge, die abschnittweise für den Verkehr freigegeben wurden. Fünfzehn Strecken hatten den Nullpunkt jeweils an der Abzweigung vom Berliner Ring. Der Berliner Ring selbst erhielt eine geschlossene Kilometrierung, der Nullpunkt lag am Stettiner Dreieck; von dort wurden die Kilometer im Uhrzeigersinn gezählt. Je drei Strecken gingen von Hamburg bzw. München aus, weitere vier starteten in Dresden. Darüber hinaus gab es fünf Autobahnen mit unterschiedlichen Nullpunkten. [2] Zur Kennzeichnung der Strecken sollten alle 25 Kilometer, gerechnet vom jeweiligen Nullpunkt aus, sogenannte „Große Steine“ (H über Gelände 95 cm, B 72 cm) auf dem Mittelstreifen stehen, für die Fein-Kilometrierung alle 500 Meter Steine in Normalgröße (H über Gelände 46 cm, B 46 cm). In der Übersicht von 1939 (siehe Anmerkung 2) trägt die hier relevante Strecke die Bezeichnung „Hermsdorf – Basel“. Ihr erster Teil war identisch mit der Autobahn Berlin – München. Der Nullpunkt lag – und liegt bis heute – am Abzweig der A 9 vom Berliner Ring. Obwohl 1939 die Autobahn in Thüringen noch einige größere Baulücken aufwies, wurde die Kilometrierung so berechnet, als ob die Strecke Richtung Frankfurt – Karlsruhe bereits durchgehend befahrbar gewesen wäre. Die für einen späteren Zeitpunkt geplante Abkürzungsstrecke, zunächst von Weißenfels nach Weimar (bis ca. 1936), dann von Dessau-Süd nach Eisenach, blieb bei der Festlegung der Strecken-Kilometer somit unberücksichtigt. Die Aufstellung der Kilometersteine an der A 4 fiel seinerzeit in die Zuständigkeit der Obersten Bauleitung Kassel. Sie entschied sich offenbar für einen Naturstein. Hingegen wurde der von der Obersten Bauleitung Frankfurt (Main) betreute Streckenabschnitt der Reichsautobahn Berlin – Frankfurt/M. – Basel von Kilometer 387,0 bei Alsfeld bis Kilometer 631,0 bei Karlsruhe mit glatten Travertin-Kunststeinen bestückt, deren vertiefte Beschriftung mit brauner Mineralfarbe hervorgehoben worden waren. In diesem Streckenbereich hat sich bedauerlicherweise kein Relikt aus der Zeit gefunden. Die in der Schemazeichnung zu sehende zusätzliche Zielort- und Entfernungsangabe in Richtung Endpunkt der Autobahnstrecke hatte sich vermutlich deshalb nicht durchgesetzt, weil mit der Neukilometrierung zugleich einheitliche Tafeln für die Fernzielangaben eingeführt wurden, um die Orientierung zu erleichtern. Diese neuen Tafeln standen zuerst an der Strecke Berlin – München. Bild 4: Schema eines ‚Großen Steins’ mit Beschriftung
Bild 5: Tafel mit Entfernungsangaben für Fernziele auf der Reichsautobahn 3. Rettung und Zukunft des Kilometersteins an der A4 Um den überraschend aufgefundenen Reichsautobahn-Kilometerstein aus dem Jahr 1939 rechtzeitig vor Beginn der Neubaumaßnahme zwischen Friedewald und Bad Hersfeld-Ost (Ast Eschwege) zu bergen, beantragte der Verfasser im Juli 2013 beim Landesamt für Denkmalpflege Hessen, ihn als industriekulturelles Kleindenkmal einzustufen. Das Landesamt bestätigte mit E-Mail vom 11. Juli 2013 an den Präsidenten von Hessen Mobil, dass es sich nach § 2.1 des Hessischen Denkmalschutzgesetzes um ein schützenswertes Zeugnis der Geschichte des deutschen Autobahnbaues handelt. Die Autobahnmeisterei Hönebach barg den Stein im Sommer 2014 zusammen mit dem Sockel aus grobem Beton (‚Höhenbolzen’) und lagerte ihn mit Kantenschutz auf einer Holzpallette. Das Foto zeigt, dass der Stein im unteren Bereich stark beschädigt oder bei der Bergung gebrochen war, so dass er mit Beton ausgebessert werden musste. Bild 6: Der geborgene Kilometerstein im Hof der Autobahnmeisterei Wildeck-Hönebach © Foto: Helmut Schneider, Archiv- für Autobahn- und Straßengeschichte, Juni 2016 Mit Zustimmung des Denkmalschutzes wurde der Kilometerstein nicht mehr am bisherigen Standort aufgestellt, sondern erhielt am 30. März 2017 einen würdigen Platz vor dem Verwaltungsgebäude im Hof der Autobahnmeisterei Hönebach, um ihn vor Zerstörung durch Salzlauge und Verkehrsunfälle zu bewahren. Bild 7: Der neue Standort des Kilometersteins von der A 4 auf dem Gelände der Autobahnmeisterei Hönebach © Foto: Hessen Mobil, AM Hönebach, 30.03.2017
Mein Dank für die unbürokratische Kooperation zur Bewahrung des historisch äußerst wertvollen Autobahn-Kleindenkmals gilt an dieser Stelle Herrn Oberkonservator Dr. Griesbach-Maisant, Landesamt für Denkmalpflege Hessen, dem Regionalen Bevollmächtigten Osthessen von Hessen Mobil Straßen- und Verkehrsmanagement, Herrn Woebbeking, und Herrn Batzke, Leiter der Autobahnmeisterei Hönebach. Anmerkungen
© Reiner Ruppmann, Oktober 2016 / März 2017 |